Joschka Fischer, der deutsche Minister für auswärtige Angelegenheiten, hat die Vollendung der europäischen Integration auf die politische Agenda gesetzt. Er ist der erste führende Politiker, der es wagte, die definitive institutionelle Architektur der Europäischen Union zu skizzieren. Fischer stellt sich die EU als eine Föderation mit einer eigenen Verfassung und einer starken, über exakt definierte Befugnisse verfügenden Regierung vor.

 In Fischers Spuren dreht sich die Debatte über die Finalität der Integration vor allem um die künftigen europäischen Institutionen und ihre Befugnisse. Im Schatten dieser beiden Fragen taucht noch eine dritte Frage auf, die logischerweise Teil der Finalitätsdebatte ausmacht, nämlich die Frage nach den Außengrenzen einer vollendeten EU. Wie weit soll sie reichen? Welche Länder dürfen auf eine Aufnahme hoffen und welche nicht?

Es wird nicht mehr lange dauern, bis diese explosiven Fragen in den Mittelpunkt der Diskussionen um die Zukunft Europas rücken. Die Kontroverse dürfte sich schon im Zuge der laufenden Erweiterungsrunde entfalten. Brüssel verhandelt jetzt gleichzeitig mit nicht weniger als zehn mittel- und osteuropäischen Staaten sowie mit Zypern und Malta über eine Mitgliedschaft. Meinungsumfragen zeigen, dass die öffentlichen Unterstützung des Erweiterungsprozesses knapp ist. Während der Beitritt der ersten Anwärterstaaten näher rückt – möglicherweise werden 2002 die ersten Beitrittsverträge unterzeichnet –, wächst der Widerstand unter den heutigen EU-Bürgern. Viele fürchten um ihren Wohlstand und ihre Sicherheit. Manche Politiker werden der Verführung nicht widerstehen können, diese Ängste zu bannen, indem sie weiteren Ausweitungsplänen einen Riegel vorschieben.

Geographie
Wo endet die EU? Aus geographischer Sicht ist die Antwort einfach: Nur die Länder, die auf dem europäischen Kontinent liegen, können beitreten. Den Gründervätern der EU scheint eine solche Grenzziehung vorgeschwebt zu haben, als sie im Gründungsvertrag festlegten: "Jeder europäische Staat, der die Grundsätze der Europäischen Union achtet, kann die Mitgliedschaft beantragen."
Eine geographische Betrachtungsweise limitiert automatisch die Anzahl möglicher Beitrittskandidaten. Aus diesem Grunde wurde 1987 der Beitrittsantrag Marokkos abgewiesen. Außerdem geht aus dem Vertragstext klar hervor, dass die EU nicht verpflichtet ist, alle Länder des Kontinents aufzunehmen. Die heutigen Mitglieder bestimmen, wer hinzukommen darf.
Aufgrund ihrer geographischen Lage steht für Norwegen, die Schweiz und Island das Tor zur EU immer offen, sollten sie einmal ihre splendid isolation als Beschränkung empfinden. Wegen des Wohlstands dieser Länder wäre ihre künftige Kandidatur unproblematisch. Sie würden Nettozahler an die EU-Kassen sein.

Das geographische Argument wirkt sich auch sehr günstig aus für die verarmten Republiken des ehemaligen Jugoslawiens und für Albanien. Wenn in etwa zehn Jahren die heutige Erweiterungsrunde abgeschlossen sein wird, ist der Balkan von EU-Mitgliedsländern umringt. Der niederländische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, Dick Benschop, meint: "Man braucht nur einen Blick auf die Karte zu werfen, um zu erkennen, dass der Balkan dazugehört. Diesen Ländern werden auch bereits gewisse Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft gemacht, in den Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen die die EU mit ihnen schließt."
Die EU investiert in den Wiederaufbau auf dem Balkan und in die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den früheren Feinden Milliarden von Euros, denn die Nähe dieser Länder macht uns anfällig für das dortige Elend. Die ethnischen Konflikte haben die EU-Länder mit Millionen Flüchtlingen konfrontiert. Die Bürgerkriege waren eine Brutstätte für Kriminelle, die ihr Tätigkeitsfeld mittlerweile auf ganz Europa ausgedehnt haben. Außerdem konnten wir den Menschenrechtsverletzungen und dem mit jedem der Balkankriege verbundenen Leid nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die militärischen Interventionen in Bosnien und im Kosovo banden den Balkan noch enger an Europa. Bomben schaffen Verpflichtungen.

Verpflichtungen ist die EU auch der Türkei gegenüber eingegangen. Trotz des Widerstands gegen eine Mitgliedschaft dieses "Moslemlandes" von christdemokratischer Seite bestätigten 1999 die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten erneut den Status der Türkei als Beitrittskandidat. Die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllt Ankara aber bei weitem noch nicht. Bis zur EU-Mitgliedschaft der Türkei können gut und gern noch zwanzig Jahre vergehen.
Trotzdem hat die EU mit ihrem Angebot an Ankara bereits den Bosporus, die Grenze des geographischen Europas, überschritten. Als nach europäischem Vorbild geformter säkularer Staat wird die Türkei von vielen Politikern als westliche Bastion im Nahen Osten betrachtet. Nicht zufällig ist das Land schon seit 1952 NATO-Mitglied. Außerdem ist die Türkei das Heimatland von Millionen Westeuropäern. Eine erfolgreiche Integration dieser Migranten in die europäischen Gesellschaften ist u.a. auch von der Integration der Türkei in die EU abhängig.

Die in Richtung Türkei ausgestreckte Hand der EU ist ein schwerer Schlag für Marokko. Viele der dem Angebot an Ankara zugrunde liegenden Erwägungen gelten auch für Rabat. Wenn die EU meint, den Bosporus überbrücken zu können, warum dann nicht auch die Straße von Gibraltar?
Hat Marokko, weil es selbst keine Landzunge auf dem europäischen Kontinent besitzt, einfach geographisches Pech? Dieses Argument kommt vielen Politikern zupass, befriedigt aber die Intellektuellen nicht. Dem Mittel- und Osteuropakenner Timothy Garton Ash fällt es schwer, die Südgrenze der EU zu definieren. "Zwischen dem Maghreb und der EU liegt wohl doch mehr Wasser als zwischen der Türkei und der EU", meint er zögernd.
Das Problem besteht nicht darin, dass Marokko in Nordafrika liegt, sondern darin, dass es nördlich der Sahara noch weitere vier Länder gibt – Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten –, die mit ebenso viel Recht eine Mitgliedschaft beantragen könnten, ganz zu schweigen von Israel. Es ist undenkbar, dass die EU diese Länder – und ihre insgesamt mehr als 130 Millionen Einwohner – innerhalb der Zeitspanne einer Generation aufnimmt. Zu glauben, diese Länder könnten in diesem Zeitraum die erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Transformationen durchführen, setzt ein großes Maß an Optimismus voraus. Der Marokko von der EU erteilte Ablehnungsbescheid muss aber nicht unwiderruflich sein und darf gewiss nicht so gelesen werden, als wäre das Land zur Übernahme europäischer Wertvorstellungen nicht imstande. Dennoch ist Rabat abzuraten, sich auf die EU-Option zu konzentrieren. Zugunsten von Stabilität und Wohlfahrt sollte sich Marokko gemeinsam mit seinen Nachbarn endlich energischer um eine intensive gegenseitige Zusammenarbeit bemühen. Wenn die nordafrikanischen Länder bewiesen, zu einer regionalen Integration fähig zu sein, würden sie Europa näher rücken.

Kulturelle Bruchlinien
Die Ukraine, Weißrussland und Moldawien brauchen nicht erst nachzuweisen, dass sie zu Europa gehören, sie liegen auf unserem Kontinent. Wenn die gegenwärtige Erweiterungsrunde abgeschlossen sein wird, werden sie mit der EU eine gemeinsame Grenze haben.
Dennoch fragen sich viele europäische Politiker, ob nicht zwischen dem Beitrittskandidaten Polen und dessen Nachbarland Ukraine eine hohe Barriere liegt, eine unsichtbare Mauer zwischen diesseits jungen Demokraten und jenseits politischen Abenteurern, zwischen der Fähigkeit zur Aneignung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Regeln einerseits und autokratischem Machtsmissbrauch und unausrottbarer Korruption andererseits. Die Zweifel an den künftigen Nachbarn treffen in noch stärkerem Maße auf das große Russland zu, einem halb europäischen und halb asiatischen Staat.
Die Vorstellung von einer kulturellen Bruchlinie zwischen Mitteleuropa und den ehemaligen Sowjetrepubliken lebt nicht nur in den Köpfen der Politiker, sondern findet auch seitens vieler Theoretiker Unterstützung. Sie führen die Bruchlinie zurück auf das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel im Jahre 1054. Im lateinischen Teil von Europa habe sich – über Renaissance, Reformation und Aufklärung – ein Wertesystem aufgebaut, dass der Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Privatinitiative förderlich ist. In den mitteleuropäischen Ländern sei dieses Wertesystem sogar nach vierzig Jahren kommunistischer Unterdrückung noch lebendig geblieben.
Im byzantinischen Teil von Europa aber hätten die humanistischen Werte gegenüber der jahrhundertealten Tradition von Untertänigkeit und Kollektivismus den Kürzeren gezogen. Laut Samuel Huntington, dem bekanntesten Vertreter dieser Richtung, stößt Europa nach dem Fall des eisernen Vorhangs auf einen samtenen Vorhang der Kulturunterschiede.

Am beunruhigendsten an dieser kulturellen Bruchlinie ist, dass sie sich auch quer durch den heutigen Erweiterungsprozess zieht. Die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien liegen auf der falschen, der orthodoxen Seite der Barriere. Das bedeutet, dass die Erweiterung der EU schon auf der Balkanhalbinsel an ihre Grenzen stoßen könnte. Dann gäbe es kaum Hoffnung für weitere Bewerber.
Rumänien und Bulgarien bilden unter den heutigen Beitrittskandidaten mit Abstand die Nachhut. Dies verleiht der Theorie von den unterschiedlichen Kulturkreisen Überzeugungskraft. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten legten 1997 die Messlatte nicht allzu hoch, als sie erklärten, diese Länder erfüllten annähernd die in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz zu stellenden Anforderungen. Sowohl in Bukarest als auch Sofia werden ernsthaft bemühte Politiker mit Leichtigkeit von Populisten geschlagen. Die Bekämpfung der Korruption steckt noch in den Kinderschuhen. Minderheiten wie die Roma haben Grund zur Klage.

Damit stellt sich die Frage, ob Rumänien und Bulgarien innerhalb der Rechtsgemeinschaft, die die EU darstellt, funktionieren können. Gerade dadurch, dass alle Mitgliedstaaten die gemeinsam verabschiedeten Rechtsnormen im Allgemeinen einhalten, ist die EU der Erfolgsfall unter den internationalen Organisationen. Dank der Achtung des übernationalen Rechts bildet die EU zudem eine Sicherheitsgemeinschaft, innerhalb der sich die Unterschiede zwischen Innen- und Außenpolitik allmählich abschleifen. Ein Krieg zwischen Mitgliedstaaten ist heute undenkbar. Sollten diese Fundamente der Integration durch übereilte Erweiterungen angetastet werden, sind in den noch im Aufbau befindlichen Bereichen politische, soziale und ökologische Gemeinschaft kaum noch Fortschritte zu erwarten.

Hoffnungsvoll stimmt jedoch das Beispiel Griechenland. Das Land hat in den zwanzig Jahren seiner EU-Mitgliedschaft sowohl wirtschaftlich wie politisch einen weiten Weg zurückgelegt. Athen ist ohne Weiteres als schwieriger europäischer Partner zu bezeichnen, hat aber jetzt seine Angelegenheiten soweit geordnet, dass Griechenland zur Währungsunion zugelassen wurde. Außerdem haben die griechischen Politiker allmählich begriffen, dass sich die Konflikte mit Erzfeind Türkei besser auf dem Verhandlungswege als durch militärische Drohgebärden lösen lassen.
Griechenland liegt nota bene an der verkehrten, der byzantinischen Seite von Huntingtons kultureller Bruchlinie. Ein Beweis dafür, dass kulturelle Identitäten und Wertorientierungen nicht so unveränderlich sind, wie manche politische Anthropologen behaupten.

Geopolitik
Die EU-Erweiterung muss folglich nicht unbedingt an einem "Kampf der Kulturen" scheitern. Deshalb verdient das Projekt eine wirkliche Chance, auch auf dem Balkan. Sein Gelingen ist einer der Faktoren, von denen abhängt, ob die Ukraine, Weißrussland und Moldawien irgendwann zur EU gehören.
Ein anderer Faktor ist Russland. Allein schon seiner Größe wegen können sich nur wenige vorstellen, dass das Land jemals der EU beitreten könnte. Mit seinen 150 Millionen Einwohnern und seiner riesigen Fläche scheint Russland dafür einfach eine Nummer zu groß.
Sogar mit einem Russland, das ein demokratischer Rechtsstaat wäre, käme die Balance innerhalb der EU in eine völlige Schieflage. Dies behauptet jedenfalls eine Studie, die die Planungsstäbe von Joschka Fischers Ministerium und dem französischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten im Juni 2000 abschlossen. Die Studie will ausdrücklich keine Regierungsstandpunkte wiedergeben und dürfe "weder zitiert noch reproduziert werden". Die Verfasser möchten eine russische EU-Mitgliedschaft für alle Zeiten ausschließen, denn sogar eine ganz Mitteleuropa, den Balkan und die Türkei einschließende EU sei noch immer weniger heterogen als Russland allein. Mit anderen Worten, mit Russland handle sich die EU mehr Widersprüche ein, als sie aushalten kann.
Auch wir können uns eine bis Wladiwostok reichende EU nur schwer vorstellen. In politischen Diskussionen werfen wir Befürwortern einer russischen Aufnahme in die EU Naivität vor. Sie haben oft keine Ahnung davon, was alles einer EU-Mitgliedschaft vorausgeht, beispielsweise die Durcharbeitung von achtzigtausend Seiten Rechtsnormen und die Fähigkeit, all diese Bestimmungen auch umzusetzen. Dennoch raten uns gerade Intellektuelle wie Timothy Garton Ash und Norman Davies, für eine russische Mitgliedschaft die Tür einen Spaltbreit geöffnet zu lassen. Sie sind der Auffassung: "Never say never."
Davies, dem Geschichtsschreiber des europäischen Gedankens, schwebt ein Szenario vor, dass zugleich bedrohlich wie auch optimistisch ist: "Putin strebt eine Wiederherstellung des russischen Reiches an. Diese Bemühungen werden wahrscheinlich scheitern. Moskau verfügt nicht mehr über die Mittel, den früheren Sowjetrepubliken seinen Willen aufzuzwingen. Nach diesem Fehlschlag wird Russland vermutlich auseinanderbrechen. Von Moskau nach Wladiwostok ist es weiter als nach Madrid. Wenn der russische Koloss in mehrere Teile zerfällt, ist es sehr gut vorstellbar, dass ein demokratisches und viel kleineres Russland den Beitrittsprozess zur EU einleitet. Wir denken hierbei allerdings an Zeiträume von fünfzig und mehr Jahren."

Die diplomatische Brisanz der oben nichtzitierten französisch-deutschen Studie beruht nicht darauf, dass sie die russische EU-Mitgliedschaft zum Tabu erklärt. Auch für viele führende Politiker in Moskau ist diese nur eine rein theoretische Option.
Das französisch-deutsche Papier vertritt jedoch außerdem mit großer Entschiedenheit die Ansicht, dass die EU nicht versuchen dürfe, Weißrussland oder die Ukraine aufzunehmen, und zwar nicht etwa deshalb, weil diese Länder prinzipiell EU-inkompatibel sind, sondern weil ihre Mitgliedschaft in Moskau das Gefühl der Isolierung hervorrufen könnte und mithin ein geopolitischer Missgriff wäre.
Ferner würde bei einer weiteren Verwischung der EU-Konturen die öffentliche Akzeptanz des laufenden Erweiterungsprozesses abnehmen. Die heutigen Beitrittskandidaten sowie der Balkan und die Türkei müssen hereingebracht werden durch den nachdrücklichen Ausschluss anderer Staaten. Joschka Fischer verwendete in seiner Humboldt-Rede eine vergleichbare Beschwörungsformel, um den Widerstand der deutschen Bundesländer gegen eine Erosion ihrer Macht durch Brüssel in gute Wege zu leiten. Er gewann ihre Unterstützung für sein Ziel einer europäischen Regierung durch die gleichzeitige Forderung nach einer Beschränkung von deren Befugnissen.

In Warschau stellt sich die Frage der Grenzen ganz anders als in Berlin oder Paris dar. In der polnischen Debatte vollzog sich eine bemerkenswerte Wandlung. Bis vor wenigen Jahren verkündete Polen in Brüssel, seine Ostgrenze bilde eine kulturelle Bruchlinie. Dahinter verbarg sich die Botschaft: Wir sind echte Europäer, östlich von uns beginnt die Barbarei. Nachdem der polnische Beitritt zur EU nur noch eine Frage der Zeit ist, singen die Vertreter aller Parteien heute das hohe Lied von der Verbundenheit mit der Ukraine. Klar ist, Polen möchte nicht ewig der Frontstaat der EU sein. Einstimmig wird inzwischen betont, die EU sei ein offenes Konzept. Und darin ist man konsequent. So steht Bronislaw Geremek, der frühere Dissident, spätere Außenminister und viel geehrte Historiker, auf dem Standpunkt, auch für ein demokratisches Russland habe dieses Konzept Platz. Gerade wegen der Zukunft der Demokratie in Russland müsse Brüssel für die Ukraine die Tür offen halten: "Das Schicksal von Putins imperialen Ideen hängt von der Ukraine ab. Es gibt kein russisches Reich ohne Ukraine."
Eine zu einer demokratischen Entwicklung verführte unabhängige Ukraine dürfte Putin und die Seinen daran hindern, ein neues Zarenregime zu installieren, und würde damit die demokratischen Tendenzen in Russland retten. Wären Berlin und Paris zu diesem Wagnis bereit? Geremek: "Der EU fehlt eine Ostpolitik, fehlt ein Konzept zu der Frage, ob Russland oder die Demokratie Vorrang hat. Ein russisches Reich würde eine Gefahr für sowohl die EU als auch das russische Volk bedeuten."

Geremek hat uns mit seinem Widerstand gegen den Gedanken, die EU müsse auf die Ukraine um des lieben Friedens mit Russland Willen verzichten, überzeugt. Würde Europa die wenigen Demokraten, die es in Kiew gibt, fallen lassen, verdunkelte sich für 50 Millionen Ukrainer die Zukunft. Sie würden noch viele Jahre unter der korrupten Macht ihres Präsidenten Kutschma – oder unter noch Schlimmerem – zu leiden haben. Auch die Chance auf eine demokratische, Otpor-artige Revolte gegen den Despoten Lukaschenko in Minsk hängt von der Perspektive ab, die die EU der demokratischen Opposition dort zu bieten vermag.
So viel aber ist klar: Eine europäische Perspektive für die Ukraine und Weißrussland kann keine Mitgliedschaftsgarantie beinhalten. Vielleicht müssen noch zwanzig und mehr Jahre vergehen, bis sowohl diese Länder als auch die EU so weit sind und Moskau einsieht, dass auch Russland von Stabilität und Wohlstand in der Ukraine und Weißrussland profitiert. Künftige europäische Generationen sollen selbst ihre diesbezüglichen Entscheidungen treffen können. Die europäische Ostgrenze ist nun einmal – wie die Geschichte lehrt – die beweglichste Grenze in Europa.

Grenzregime
Die von Joschka Fischer und seinen Beratern entwickelten Blaupausen eines künftigen Europas nötigen auch andere Politiker dazu, den kommenden Herausforderungen ins Auge zu blicken. Dadurch bietet sich die Chance, mit der in Brüssel dominierenden Politik ohne langfristige Konzepte zu brechen. Aber die Vorstellung, dass wir heute schon – wenn es denn den Wähler beruhigt – die definitive Architektur, die Befugnisse und die Grenzen der EU festschreiben könnten, ist zu anspruchsvoll. Finalitäten sind intellektuell unbefriedigend. Letztlich ist die Fischer vorschwebende Föderation auch nur eine Momentaufnahme der gegenwärtigen deutsch-französischen Machtverhältnisse. Für Berlin stellt die EU eine Alternative zu nationalen Ambitionen dar, für Paris ist sie dafür Mittel. Der von Fischer vorgeschlagene Kompromiss zwischen beiden Gesichtspunkten ist gewagt, hat aber keinen Ewigkeitswert. Die Zukunft muss offen bleiben.

Das Revue-passieren-Lassen der möglichen äußersten Grenzen der EU ist vor allem deshalb sinnvoll, weil dabei Leerstellen der europäischen Politik sichtbar werden, insbesondere bezüglich der Länder, die vorläufig außerhalb der EU bleiben. Wenn Polen EU-Mitglied wird, schließt sich die polnische Grenze für die ukrainische Bevölkerung. Polen übernimmt dann das Schengenregime, demzufolge Einwohner der Ukraine visumpflichtig sind. Das Beantragen und Abholen eines Visums bei einer der westlichen Botschaften ist für viele Ukrainer zu teuer und zu umständlich.
Die Schengenbestimmungen wollen Schmuggelwaren, Kriminellen und illegalen Einwanderern den Zugang zur EU verwehren. Muss dies aber notwendigerweise zu Kosten der wirtschaftlichen, kulturellen und familiären Verbindungen zwischen den Polen und Ukrainern gehen? Verbessern wir wirklich die Sicherheit in der EU dadurch, dass wir die Isolation der östlichen Anrainerstaaten verstärken? Die polnischen Politiker akzeptieren zwar die strengen EU-Anforderungen bei Zollkontrollen, plädieren aber zugleich für eine unbürokratische Vergabe billiger Mehrfachvisa, zumindest für die Bewohner der Grenzregionen.
Nachdem die Terroranschläge auf die Vereinigten Staaten die Bekämpfung des Terrorismus ganz oben auf die europäische Agenda gesetzt haben, sollten sich die politischen Entscheidungsträger vor einer reflexartigen Verbarrikadierung der EU vor der bösen Außenwelt hüten. Die Lehre des 11. September ist vor allem die, dass wir uns keine schwarzen Löcher auf der Weltkarte und noch weniger auf der europäischen Landkarte leisten können. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, damit auch die instabilen Staaten in den europäischen Randlagen Aussicht auf eine Zukunft mit Stabilität und Wohlstand erhalten. Dafür ist Austausch statt Isolation, sind poröse statt vermauerte Grenzen erforderlich – gerade wegen unserer Sicherheit.

Wir sollten Grenzen nicht als Panzer sehen, sondern als Haut, durch die sich atmen lässt. Je besser uns das gelingt, je mehr verliert die Frage der endgültigen EU-Grenzen ihren bedrohlichen Unterton. Die Debatte lässt sich dann offener und mit größerem Tiefgang führen, so dass die von Politikern gezogenen Grenzen durch die Intellektuellen wieder verschoben werden – und umgekehrt.

Joost Lagendijk / Jan Marinus Wiersma
Mitglieder des Europäischen Parlaments für GroenLinks (Grünen) bzw. die PvdA (Sozialdemokraten)

Die Zitate stammen aus Interviews, die die Verfasser zur Vorbereitung ihres Buches "'Brussel – Warschau – Kiev, op zoek naar de grenzen van de Europese Unie" (Brüssel – Warschau – Kiew. Auf der Suche nach den Grenzen der Europäischen Union) führten. Das (niederländischsprachige) Buch erschien Ende November 2001 im Verlag Balans, ISBN 9050185657.